Ein solidaristisches Manifest

Die derzeit unsere Gesellschaft und Politik dominierenden Ideologien helfen uns nicht weiter. Ein erheblicher Teil von ihnen ist sogar schädlich. Die Zeit ist reif für neue Ideologien, und anstatt darauf zu warten, dass jemand anderes sich kümmert, habe ich mir eine eigene Ideologie gebaut.

Och je, echt? Noch eine Ideologie? Ist Ideologie nicht gerade das Problem? Braucht es nicht mehr Pragmatik, statt mehr Ideologie?

Der Eindruck drängt sich beim Verfolgen des politischen Diskurses geradezu auf. “Das, was wir wollen, ist pragmatisch, das, was die wollen, ist ideologisch.” Aber das ist natürlich Unsinn, ein platter rhetorischer Trick. Alle Politik passiert auf Basis der verschiedenen Ideologien. Ohne geht es also überhaupt nicht. Unsere Ideologie ist nur natürlich gesunder Menschenverstand, während eure Ideologie immer verbohrte Engstirnigkeit ist. So weit, so klar. Die Frage, die sich stellt, ist doch eher: Funktionieren die aktuellen Ideologien für dich? Bist du zufrieden mit dem Zustand unserer Gesellschaft, unserer Politik?

Ich jedenfalls bin es überhaupt nicht, und ich möchte kurz erklären warum, bevor wir dann über Solidarismus reden.

Schauen wir uns zunächst einmal an, was da so alles im Angebot ist. Die in Deutschland normalerweise dominierende Ideologie ist der Konservatismus, weiterhin haben Liberalismus und Sozialismus großes politisches Gewicht.

Mein Problem mit dem Konservatismus ist, dass er sich für stabilisierend hält, aber in Wirklichkeit inhärent instabil ist. Spürbare Veränderungen zu minimieren ist für den Menschen attraktiv, da er grundsätzlich das Bekannte dem Unbekannten vorzieht. Kommt eine gravierende Veränderung allerdings von außen, beispielsweise durch eine Pandemie oder die Klimakatastrophe, welche eine spürbare gesellschaftliche Anpassung notwendig macht, dann neigt der Konservatismus zum Kopf in den Sand stecken, zum Abwiegeln oder direkt zur offenen Leugnung.

Darüber hinaus denkt der Konservatismus zu stark in Besitz und zu wenig in Gesellschaft. Das führt dazu, dass gesellschaftlich wichtige Themen, welche nichts mit Besitz zu tun haben, im konservativen Geist wenig Beachtung finden. Gleichzeitig neigt der Konservatismus zu Naivität, wenn er mit Ideologien konfrontiert ist, die zum eigenen Besitzdenken kompatibel sind, wie etwa dem Faschismus. Im Glauben, eine kontrollierbare Unterstützung gefunden zu haben, wird er wieder und wieder überrollt, und gibt sich hinterher überrascht.

Während jedoch der Konservatismus durchaus in der Lage ist, gesamtgesellschaftliche Herausforderungen als solche anzuerkennen, neigt der Liberalismus dazu, deren Existenz vollständig zu verneinen. Das eigenverantwortliche Handeln sieht der Liberalismus als das unveräußerliche Grundprinzip sämtlicher gesellschaftlichen und politischen Abwägungen. Aus der Betonung der persönlichen Freiheit – ein Prinzip, welches ich durchaus teile – wird so allzu oft ein primitives, ultraegoistisches “Ich, ich, ich”.

Es ist somit kein Zufall, dass neurechte Strömungen zuletzt immer häufiger aus der liberalen bzw. libertären Richtung kommen. Wenn gesellschaftliche Verantwortung schon konzeptionell abgelehnt wird, ist es natürlich viel leichter, sich an Schutzbedürftigen und Minderheiten abzuarbeiten, diese mindestens unter den sprichwörtlichen Bus zu werfen, oder gar aktiv anzufeinden.

Die einzige Antwort des Liberalismus auf notwendige gesellschaftliche Veränderungen ist eine Überzeugungsarbeit beim Individuum, anstelle der Aufstellung von gesellschaftlichen Regeln. Das mag als Utopie brauchbar sein, und sicher sollte man nicht nur regulieren, sondern auch inhaltlich überzeugen. Es braucht aber nicht erst Notfallmaßnahmen gegen eine Pandemie als extremes Beispiel, um zu verstehen, dass wir uns nicht immer leisten können, jeden einzelnen Menschen zu überzeugen, sondern dass manchmal Regeln aufgestellt werden müssen, die einfach befolgt werden müssen, um Unheil für die Gesellschaft abzuwenden.

Bleibt also noch der Sozialismus. Damit wir uns richtig verstehen: Ich liebe meine sozialistischen Freunde über alles. Ich kann der sozialistischen Grundidee prinzipiell sehr viel abgewinnen. Trotzdem verweise ich nicht einfach auf Marx und bin fertig, auch wenn ich es für die intellektuell ernsthafte Diskussion von Sozialismus und Kommunismus für ausgesprochen hilfreich halte, die entsprechende Literatur zu kennen.

Es ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass wir bisher noch nie einen Sozialismus erlebt haben, der nicht entweder von vornherein falsch umgesetzt worden ist, oder so instabil war, dass er mehr oder weniger sofort in eine totalitäre Dystopie abgeglitten ist, welche den Sozialismus nur noch als Feigenblatt benutzt hat, mit dessen edler Idee aber nur noch sehr wenig zu tun hatte.

Das heißt ja erstmal nichts. Es deutet aber darauf hin, dass Sozialismus, wie dessen Kritik ja immer schnell behauptet, eine tatsächlich nicht praktisch anwendbare Ideologie sei. Ich würde wohl sehr gerne in einer echt sozialistischen Gesellschaft leben. Die Frage, die sich aufdrängt, ist: Gibt es einen realistischen Weg, wie wir dort hinkommen, und dann auch da bleiben können? Wenn du diese Frage ohne zu zögern mit “Ja” beantworten kannst, sind entweder für dich Dinge offensichtlich, die es für mich nicht sind, oder deine Definition von “realistisch” ist eine andere als meine.

Leider gibt es auch noch die vielen Ausprägungen des Unpolitismus, welche alles von “Ändert sich doch eh nix!” bis hin zu “Links und Rechts ist beides gleich schlimm, ich bin gemäßigt” sein können. Zunächst sei einmal gesagt: Unpolitismus ist keine Ideologie, sondern die bewusste Verweigerung von Ideologie. Es ist die Ablehnung der aktiven Einbringung und der bewussten Positionierung, welche die Demokratie als Grundvoraussetzung ansieht. Aus reiner geistiger Bequemlichkeit wird bestenfalls dann mal gemurrt, wenn es um die eigenen Annehmlichkeiten geht. Bis dahin wird der sich trotzdem ständig ändernde Status Quo zementiert. Wenn dieser für andere Menschen problematisch, schädlich, ja sogar tödlich ist: Den Unpolitismus juckt’s nicht. “Wenn Wahlen etwas ändern könnten, wären sie verboten” ist eine geistige wie politische Bankrotterklärung.

Ich mache die Unfähigkeit der existierenden Ideologien, im großen Stil zu begeistern, und unsere Gesellschaft so zu bewegen, dass eine Mehrheit von uns zufrieden ist, zum erheblichen Teil für die Existenz des Unpolitismus verantwortlich.

Deswegen also habe ich eine neue Ideologie konstruiert: Den Solidarismus.

Natürlich ist nichts von dem, was zum Solidarismus gehört, wirklich neu. Die Anhänger von Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus werden genug von ihren eigenen Realitäten wiedererkennen. Auch das Wort “Solidarismus” ist nicht neu. Rudolf Diesel hat mal unter dieser Überschrift seine “Lösung der sozialen Frage” skizziert. Seine Idee von genossenschaftlich organisierten Betrieben als den vollständigen Lebensmittelpunkt aller Menschen teile ich jedoch nicht.

Ich bin hier auch nicht angetreten, die alleinige Wahrheit, oder die Lösung für alle Probleme und Konflikte gefunden zu haben. Das hier ist meine Ideologie. Du kannst dir deine eigene konstruieren, dabei meine in Teilen oder ganz übernehmen, ergänzen, erweitern. Dabei kommt vielleicht dein bisheriges Weltbild etwas ins Schwanken, was unangenehm ist, ja sogar Angst machen kann. Gut! Das sollte es auch. Die eigenen Überzeugungen sollten nicht gewechselt werden wie Socken. Es braucht eine Basis, und je näher dieser beim Prozess des Hinterfragens der eigenen Überzeugungen gekommen wird, umso schmerzhafter und furchterregender wird es. Sich umstimmen zu lassen, ein bisher ungeliebtes Nahrungsmittel doch mal zu probieren, ist leicht. Sich einzugestehen, dass die Überzeugungen des bisherigen Lebens falsch waren, das ist hart.

Nachdem das gesagt ist: Die Grundidee des Solidarismus ist das, was ich als das Solidarismusprinzip bezeichne. Es lautet:

Jeder Mensch hat das Recht auf freie Entfaltung, und die Pflicht, den anderen Menschen freie Entfaltung zu ermöglichen.

Der erste Teil könnte dir bekannt vorkommen. Im zweiten Teil kehre ich dieses individuelle Recht zu einer gesellschaftlichen Pflicht um. Damit wir uns anschauen können, wie sich dieses Prinzip in unserer Gesellschaft anwenden lässt, müssen wir zunächst definieren, wie unsere Gesellschaft konstruiert ist.

Wertfrei betrachtet, leben wir in einer kapitalistischen Demokratie. Und das ist ein Widerspruch, dessen Auflösung sorgfältige Abwägung erfordert.

Die Demokratie hat einen grundsätzlich egalitären Grundgedanken. Dieser kann sich am besten als eine horizontale Gliederkette vorgestellt werden. Die Macht liegt über freie, gleiche und geheime Wahl beim Volk, und die Wahlstimmen aller Menschen sind gleich gewichtig.

Im Gegensatz dazu ist der Kapitalismus grundsätzlich nicht egalitär, sondern elitär. Er kann sich am besten als eine hierarchische Pyramide vorgestellt werden. Die meisten, unten, haben wenig Geld und dadurch auch wenig Einfluss und Macht, während sich Geld, Einfluss und Macht bei einigen wenigen an der Spitze der Pyramide ballen.

Ich höre meine sozialistischen Freunde quasi schon rufen, dass wir sowieso keine Probleme gelöst bekommen, bevor wir nicht den Kapitalismus überwinden. Da bin ich wieder bei meinem Punkt, dass ich keinen offensichtlichen oder realistischen Weg zu dieser Überwindung sehe. Ich jedenfalls sehe diese Überwindung nicht als mein Ziel. Ich sehe den besten Weg in einem besseren Kompromiss zwischen diesen widersprüchlichen Konstrukten.

Eine vollständig egalitäre Gesellschaft wäre absolut unfrei, da die Gleichheit gewaltsam erzwungen sein müsste. Jede Abweichung der Gleichheit führt unweigerlich wieder zu einer Hierarchie. Aber wer erzwingt die Gleichheit? Da hast du’s. Genauso wäre eine libertär-kapitalistische, nicht demokratische Gesellschaft völlig den Launen der Reichen und Mächtigen ausgeliefert. Die logische Konsequenz: Je weniger Geld und Macht, desto weniger Freiheitsgefühl. Absolute Freiheit und absolute Gleichheit gibt es nicht, Freiheit bewirkt Ungleichheit, und Gleichheit bewirkt Unfreiheit.

Deswegen kam die Französische Revolution auf den dritten Begriff: liberté, égalité, fraternité. Zwar ist “Brüderlichkeit” in seiner rein männlichen Form nicht der Begriff, den wir heute wählen würden. Vielleicht eher “Gemeinsamkeit”. Der Gedanke dahinter ist jedenfalls ein solidarischer: Lasst uns in Gemeinsamkeit die richtige Balance zwischen Freiheit und Gleichheit finden.

Das bedeutet, dass ich das Grundproblem dort sehe, wo der Kompromiss zwischen Freiheit und Gleichheit, zwischen Kapitalismus und Demokratie, sich so verschoben hat, dass wir als Gesellschaft mit dem Ergebnis schlecht leben können und unzufrieden sind. Es ist nicht die Existenz der kapitalistischen Pyramide, welche uns Probleme macht. Irgendwer hat immer mehr als irgendwer anderes. Irgendwer muss immer die Toiletten putzen. Aber ich sehe die Pyramide als zu verzerrt und zu dominierend. Der Reichtum an der Spitze ist zu gewaltig geworden und hat sich zu weit von der Basis der Pyramide entfernt, wo die allgemeinen Lebensumstände zunehmend von Kummer und Leid definiert sind.

Die gegenwärtige Ausprägung der Pyramide widerspricht also dem Solidarismusprinzip: Von freier Entfaltung kann an der Basis der Pyramide keine Rede sein, während die Spitze der Pyramide ihrer Pflicht zur Ermöglichung der freien Entfaltung anderer in keinster Weise nachkommt.

Der Solidarismus kann im Hier und Jetzt angewendet werden, und erfordert nicht erstmal einen Systemwechsel. Den halte ich auch nicht unbedingt für nötig. Ich bin mit den bisherigen Ideologien und ihren Ergebnissen in unserer gesellschaftlichen Situation unzufrieden. Deswegen muss ich nicht das System abreißen. Das wäre für mich etwa so, wie nach dem Lesen von drei Romanen, die alle nicht gefielen, die Existenz von Büchern abzulehnen, und Buchhandlungen anzuzünden. Nicht das System ist das Problem, sondern seine aktuelle Ausgestaltung. Und ich bin davon überzeugt, dass das keine zwingende Konsequenz des Systems ist.

Das Solidarismusprinzip spricht von freier Entfaltung. Aber was bedeutet das konkret? Zum Beispiel etwas ganz Grundlegendes: Freie Entfaltung kann nicht stattfinden, wenn gewisse menschliche Grundbedürfnisse nicht erfüllt sind. Das Individuum ist nicht frei im Denken und Handeln, wenn es sich im Existenzkampf befindet.

Daraus leitet sich ab, dass ein Grundrecht auf ausreichende Ernährung, ein Dach über’m Kopf, medizinische Versorgung und gesellschaftliche Teilhabe besteht. Jegliche Form von Ausgrenzung kann niemals mit dem Solidarismus vereinbar sein. Erst wenn meine Grundbedürfnisse erfüllt sind, beginnt meine freie Entfaltung. Diese kann ich grundsätzlich so gestalten, wie ich das für richtig halte, solange ich dabei nicht die freie Entfaltung anderer einschränke. Das leitet sich aus der Pflicht ab, anderen eine freie Entfaltung zu ermöglichen.

Auch die solidaristische Rolle des Staates in unserer Gesellschaft kann so klar definiert werden. Die gesellschaftliche Pflicht, freie Entfaltung zu ermöglichen, ist nicht individuell lösbar; ich als Individuum kann nicht jedem anderen Menschen direkt die freie Entfaltung ermöglichen. Es braucht systemische Institutionen, die dazu dienen, jedem Individuum in der Gesellschaft die freie Entfaltung zu ermöglichen. Das ist im Solidarismus die wichtigste Rolle des Staatsapparates. Wie das im Detail aussehen müsste, möchte ich an dieser Stelle aber noch nicht weiter ausführen, das wird glaube ich ein eigener Post zu einer anderen Zeit.

Es ist klar, dass ein Solidarist große Vermögen, die keinerlei Nutzen für die Gesellschaft bringen, niemals akzeptieren wird. Die Pflicht, innerhalb der Gesellschaft nach eigenen Möglichkeiten anderen die freie Entfaltung zu ermöglichen, ist umso extremer verletzt, je größer das Vermögen des Individuums ist. Es hat dieser Pflicht nachzukommen, indem es den Staat als ausführendes Organ der Ermöglichung dieser freien Entfaltung durch Steuern finanziert.

Die aktuelle Ausgestaltung unserer Demokratie ist also eine ziemlich miserable Ausgestaltung des Solidarismus. Grundsätzlich sind ihr dessen Ideen und Prinzipien aber durchaus nicht fremd. Daher sehe ich gute Chancen, unsere Gesellschaft hin zu einer besseren, solidaristischeren Form zu transformieren.

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